Offene Fehlerkultur in geschlossenen Tunneln 

Eine Reise vom Tunnel unter Omas Blumenbeet zu einem der größten Projekte in Sachen Kompensationsinjektionen in ganz Europa 

Baustellen sind in sich geschlossene Systeme. Während über Erfolge geredet wird, dringt wenig darüber an die Außenwelt, was es gebraucht hat, um ans Ziel zu kommen. In diesem Beitrag wollen wir anhand eines Beispiels thematisieren, wieso es viel mehr offene Kommunikation im Bau braucht, um die Branche nach vorne zu bringen.  

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Es ist Arbeit im Millimeterbereich auf der Tunnelbaustelle der Wiener U-Bahn: Wenn sich der Boden oberhalb des neugegrabenen Tunnels senkt, muss injiziert werden, um die darüberliegenden Gebäude zu sichern. Bauingenieur Florian Özkoral arbeitet gemeinsam mit seinem Team und eguana daran, diese Prozesse zu optimieren. Gar nicht so einfach – vor allem, weil Bauingenieure und Entwickler selten dieselbe Sprache sprechen! 

Zeit für ein Intro im besten Blockbuster-Stil: Wir zoomen vom Weltraum auf die Erde, tauchen durch die Wolkendecke und nähern uns rasant einer Großstadt. Schon lassen sich die einzelnen Gebäude unterscheiden, doch wir zoomen immer weiter rein, durchfliegen ein paar Straßenzüge und biegen dann abrupt ab – nach unten! In eine Baugrube gigantischen Ausmaßes, vorbei an einigen beeindruckenden Baumaschinen kommt die Kamera auf einem Bauingenieur zum Stillstand, der – das Tablet in der Hand – gerade im intensiven Gespräch mit seinen KollegInnen ist.  

Was wir sehen, ist ein Ausschnitt der Bauarbeiten entlang der Verlängerung der U-Bahn-Linie 2 in Wien. Hier sorgen täglich ca. 90 Kompensationsinjektionen mit knapp 3m3 verpresstem Material dafür, dass der Boden nicht nachgibt und an dem Schacht und über dem Tunnel befindliche Gebäude nicht absinken.  

Die Kamera verharrt kurz – um uns dann ebenso schnell nochmal nicht nur aus der Baugrube hinaus und in eine ländliche Gegend zu transportieren – sondern auch in der Zeit zurück. Künstlerisch gekonnt dargestellt durch rückwärts laufende Menschen. 

Und so kommen wir an in einem wunderschönen Garten, wo ein Kind freudestrahlend gemeinsam mit Opa den ersten Tunnel seines Lebens fertigstellt. Direkt unter Omas Blumenbeet!  

Wäre es zu kitschig, wenn an dieser Stelle direkt noch Oma aus dem Haus kommt und mahnend den Zeigefinger hebt, bevor sie ihren “Maulwürfen” einen Kuchen serviert? Möglicherweise. Aber wir sind hier immerhin beim Film. 

Oder doch nicht? 

Denn was klingt wie ein Drehbuch, stellt sich bei näherer Betrachtung als pure Realität heraus! 

Unser heutiger Gastautor Florian Özkoral hat tatsächlich schon als kleiner Junge gemeinsam mit dem Opa gerne Löcher gegraben, zweimal wirklich unter dem Blumenbeet seiner Oma. Eine Faszination für Baustellen und groß Maschinen versteht sich fast von selbst. 

Aber nicht jeder, der sich als Kind für Baustellen begeistert, schafft es, diese Leidenschaft zum Beruf zu machen – und dann auch noch so erfolgreich. 

Tunnel graben für Fortgeschrittene 

Inzwischen ist der studierte Bauingenieur nicht einfach nur im Spezialtiefbau tätig, er ist auf einer der anspruchsvollsten und größten Tunnelbaustellen Europas im Einsatz: der Baustelle U2xU5 in Wien, bei der eine neue U-Bahn-Linie entstehen sowie eine existierende Linie verlängert werden soll. Konkret hat er sich im letzten Jahr unter anderem intensiv mit der effizienteren Abwicklung von Kompensationsinjektionen beschäftigt – und darum geht es heute. 

„Kompensationsinjektionen“ erklärt für (m)eine Oma: 

Im Zuge von Tunnelvortrieben kann es zu Setzungen an der Oberfläche kommen. Sprich: Gebäude oberhalb des Tunnels sinken ab. Durch Kompensationsinjektionen kann man diese Häuser wieder nach oben heben und das Absinken ausgleichen. 

Bei einem so großen Bauvorhaben wie der U2xU5 fallen Millionen Messdaten von Schlauchwaagen und zigtausende Injektions- und Bohrdaten an. Um diese Daten zu überblicken und einsehen zu können, ist der Schritt in die Digitalisierung und Automatisierung ein unausweichlicher und unbedingt notwendiger.  

So messen beispielsweise Schlauchwaagen oberhalb der U2-Baustellen, ob es in der Umgebung zu Hebungen oder Setzungen kommt. Konkret werden nicht nur einzelne Messpunkte betrachtet, sondern vor allem auch deren Korrelation zueinander, mit Hilfe von Achsen. Wieso das? 

Um diese Frage zu beantworten, hilft ein kulinarischer Vergleich: Um einen Tortenboden vom Backblech auf den Teller zu befördern, muss man ihn anheben. Im Optimalfall wird dabei der gesamte Boden gleichzeitig angehoben und befördert. Denn wenn nur ein Ende angehoben wird und der Höhenunterschied zwischen dem bereits angehobenem und dem noch liegenden Teil des Tortenbodens sich vergrößert, können sich Risse bilden und im schlimmsten Fall bricht das gesamte Backwerk auseinander.  

Ähnlich verhält es sich im Baubetrieb. 

Excelberge verringern, Fehler vermeiden 

Aus diesem Grund werden die Daten der Schlauchwaagen genauestens aufgezeichnet und kontrolliert. Kommt es tatsächlich einmal zu relevanten Verschiebungen, wird von Seiten der Fachplanung ein Handlungsvorschlag erstellt und an die für die Ausführung verantwortliche Bauingenieur*in weitergeleitet, die letztendlich einen Injektionsvorgang auslöst, um die von den Schlauchwaagen verzeichnete Bewegung zu kompensieren. 

TOP-Frauen im Tunnelbau

Das Baugewerbe ist zu großen Teilen immer noch sehr männlich besetzt. Langsam kommt aber auch im Bereich Gender-Equality Bewegung in die Sache – etwa mit Katarina Džeko: Bauingenieurin, Tunnelbau-Expertin und langjähriges Mitglied von Florian Özkorals Team. 

Aktueller Status quo bei vielen Projekten ist es, diese Arbeiten mittels Excel durchzuführen. „Wir haben stundenlang Zeit mit der Erstellung von Schichtaufträgen im Excel verbracht”, erzählt Florian Özkoral,  „und dies wollten wir so schnell wie möglich ändern, um den Vorgang effizienter und weniger fehleranfällig zu gestalten. Durch die Ausarbeitung im Excel sind immer wieder Fehler in den Schichtaufträgen passiert, da es einfach schwierig war, solche Datenmengen ohne Fehler abzuarbeiten.” Bei oft einigen hundert Manschetten und wenig Kontrollmöglichkeiten keine leichte Aufgabe, hier fehlerfrei zu arbeiten.   

Das muss doch einfacher gehen 

Das müsste doch einfacher gehen, war sich Florian Özkoral sicher, weshalb die Baustelle auf eguana setzte. Die Schlachwaagendaten in SCALES zu überwachen, im Bedarfsfall herunterzuladen, einen Injektionsvorschlag zu erstellen, wieder hochzuladen und an den jeweils ausführenden zu übermitteln, war aber immer noch zu umständlich. Florian Özkoral ließ sich nicht unterkriegen: „Es gibt so gut wie immer einen weiteren Weg, ein Problem zu lösen – man muss es nur in Angriff nehmen.“ 

Teamwork makes the dream work 

Was also tun? 

Es klingt banal und ist doch universell: Darüber reden bringt meistens was. „Durch gemeinsame Termine mit allen Beteiligten, wo wir immer wieder ausgelotet haben, wo die Reise hingehen soll und ob wir uns auf dem richtigen Weg befinden.“ 

Ganz so einfach war es natürlich nicht. Es gab unzählige Abstimmungsrunden und gerade zu Beginn war das Projekt geprägt von vielen Missverständnissen, Problemen in der Kommunikation, unterschiedlichen Auffassungen, wie Daten notiert werden, und ähnlichem. 

Um trotz aller Hindernisse zum Ziel zu kommen, war das Wichtigste, alle Beteiligten “an einen Tisch zu bringen und sich offen auszutauschen, um eine gemeinsame Lösung zu finden bzw. zu erarbeiten”, so Florian. Eine der größten Schwierigkeiten in dieser Hinsicht waren für ihn die unterschiedlichen Sichtweisen von Entwicklern und Baustellenakteuren. “Aber offene Fehlerkultur ist gerade im Bauwesen eine sehr wichtige Sache, da oft nur darüber gesprochen wird, wie toll ein Projekt ist oder war, aber selten über die aufgetretenen Fehler im Zuge der Abwicklung und was man daraus für andere Projekte mitnehmen und lernen kann. Ich habe vor allem gelernt, zu Beginn schon zu versuchen, den gesamten Prozess zu analysieren und dann die richtigen Schritte einzuleiten. Würde ich das Projekt nochmal von vorne anfangen, würde ich versuchen, schon von Anfang an größer und globaler zu denken – damit man den Arbeitsprozess von A bis Z erfassen und digital abdecken kann.“ 

Ähnlich beschreibt Florian Rathenböck den Prozess aus Sicht des Entwicklerteams: „Natürlich gab es bereits im Vorfeld nicht nur ein detailliertes Konzept, sondern auch intensiven Austausch. Aber wie so oft im Leben hat sich gezeigt, dass nicht alles, was in der Theorie schön geplant wurde, in der Realität auch genauso umsetzbar ist. So gab es zum Beispiel veränderte Abläufe im Baustellenalltag, die auch entsprechende Anpassungen der digitalen Umsetzung notwendig gemacht haben.“ 

Die Bauleiter stehen vor der Mammutaufgabe, in einem ohnehin schon vollen Arbeitstag zusätzliche Zeit zu finden, um das neue System zu testen und Rückmeldung zu geben. Hinzukommen bei einem Projekt dieser Größenordnung verhältnismäßig lange Iterationsschleifen, was in Kombination mit den veränderten Abläufen zu Verzögerungen im Projekt geführt hat: Statt wie geplant im Juni war das neue System erst im September vollständig einsatzbereit. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen! 

Für die erfolgreiche Umsetzung von solchen Projekten ist Teamwork ein absolutes muss, weiß auch eguana-Geschäftsführer Philipp Maroschek aus langjähriger Erfahrung. Baustelle und Entwickler müssen gemeinsam an einen Strang ziehen, eng zusammenarbeiten und miteinander kommunizieren.” Den Entwicklern fehlt oft der Bezug zur Baustelle und manchmal auch ein wenig das Verständnis dafür, wie komplex Abläufe auf der Baustelle oftmals sind. Im Gegenzug dazu fehlt es den Bauingenieuren oft an Verständnis für die IT und dass man bei einem System, das eine Größe und einen Umfang wie SCALES hat, nicht einfach mal schnell was ‘reinprogrammieren’ kann.” Unter der Leitung der beiden Florians haben mehr als zehn Personen aktiv an dem Projekt mitgearbeitet – da war ein kontinuierlicher, offener und ehrlicher Austausch unabdingbar. 

“Wichtig ist auch, dass solche Entwicklungsprojekte vom Baustellenmanagement – in diesem Projekt konkret von der Projektleitung – auch entsprechend unterstützt und mitgetragen werden”, betont Maroschek. “Das ist nicht immer einfach und auch nicht selbstverständlich.” 

Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist …  

Es hat zwar deutlich länger gedauert als geplant, aber inzwischen haben wir einen runden Prozess geschaffen, der komplett innerhalb der Plattform läuft. Ex- und Importe konnten komplett gestrichen werden, sodass nun der gesamte Schichtauftrag sowie das zugehörige Ergebnis bzw. der Hebungserfolg direkt auf der Plattform erfolgen. 

Der neue, optimierte Prozess sieht folgendermaßen aus: 

Wenn es einen Alarm gibt, kann die Fachplanung die Veränderung direkt in SCALES prüfen. Neben einzelnen Messpunkten ist es hier auch wichtig, den Hebungs- / Setzungsverlauf entlang definierter Achsen und die ISO-Linien Darstellung zu betrachten. Erst aus diesem Zusammenspiel mehrerer Messpunkte kann von Seite der Planer definiert werden, welcher Bereich konkret durch eine Kompensationsinjektion gehoben werden soll.  

Auf Basis dieses Handlungsplanes legt der Bauleiter vor Ort (ebenfalls direkt innerhalb der Plattform) durch einen Schichtauftrag fest, welche Manschetten konkret zu beaufschlagen sind. Zusätzlich erstellt er ein Widget, um in Echtzeit mitverfolgen zu können, wie sich die Kompensationsmaßnahmen bei den betroffenen Punkten (sprich, den Schlauchwaagen) auswirken. 

Dieser Schichtauftrag sowie das zugehörige Dashboard zur Echtzeitüberwachung werden vom Bauleiter in SCALES für den Pumpenfahrer vor Ort freigegeben, der die ausgewählten Manschetten mit der definierten Menge beaufschlagt. 

Neben der Echtzeit-Überwachung erfolgt die Beaufschlagung in kleinen Chargen. Nach jeder Charge wird der Erfolg der Maßnahme beurteilt und im Bedarfsfall ein weiterer Schichtauftrag erteilt – so lange, bis das vom Planer festgelegte Hebungsziel erreicht werden konnte. 

Der optimierte Prozess bedeutet eine Arbeitserleichterung für alle Beteiligte – ein voller Erfolg in Sachen Teamwork, worauf wir wirklich stolz sind! „In Sachen Injektionstechnik (insbesondere bei Kompensationsinjektionen) ist das Projekt mit seinen 38.000 m² zu kompensierende Fläche eines der größten Projekte dieser Art in Europa und bei uns in der Firma – wir haben hier einen wichtigen Meilenstein in Sachen Digitalisierung und Ausführung geschafft“, so Florian Özkoral. 

Unsere Learnings 

„Könnte ich das Projekt nochmal von vorne beginnen, würde ich noch deutlich mehr Zeit in das Konzept investieren, vor allem aber noch enger mit der Baustelle zusammenarbeiten und versuchen, Randfälle oder mögliche Probleme vorab aufzeigen und unser bautechnisches Know-How nutzen, um den späteren Arbeitsablauf so detailliert wie möglich den Anwendern vorzuzeigen. Denn viele Schwierigkeiten oder falsche Annahmen merkt man erst in der tatsächlichen Anwendung”, zieht Florian Rathenböck Bilanz aus der Zusammenarbeit. 

Thomas Edison soll einst gesagt haben: „Ich habe nicht versagt. Ich habe nur 10.000 Wege gefunden, wie es nicht funktioniert.“ Auch wir machen Fehler – aber so wie der Erfinder der Glühbirne lernen wir aus ihnen. Und am Ende finden wir den Weg, der zum Ziel führt! 

So weit, so gut – aber sind wir bereits am Ziel angekommen? Natürlich nicht! 

„Wir sind in Punkto Automatisierung schon weit gekommen“ so Florian R., der einen weiteren Automatisierungsgrad in diesem Bereich aktuell nicht in Erwägung zieht. “Wir haben bereits einen weiten Weg von ‘Das System erstellt Vorschläge anhand von Setzungen’ zu ‘Der Planer definiert, wo zu heben ist’ zurückgelegt. Weitere Verbesserungen sollten darauf abzielen, den Planern die Arbeit zu erleichtern.” 

„Es gibt im Bauwesen noch immer einige offene Baustellen, was das Thema Digitalisierung betrifft – Potenzial noch vorhanden”, gibt Florian Özkoral zu bedenken. Gut, dass es Bauingenieure gibt, die aktiv daran arbeiten, Automatisierung und Digitalisierung voranzutreiben!  

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Über Florian Özkoral: 

Von Omas Blumenbeeten zur tiefsten U-Bahn Wiens, wie kam’s? “Nach der HTL für Tiefbau in Villach war ich ein wenig unschlüssig und wollte gleich arbeiten gehen, aber mein damaliger Chef (des Ingenieurbüros, wo ich damals fast jeden Sommer meine Praktika gemacht habe) hat mich dazu motiviert studieren zu gehen – so bin ich auf der TU-Wien gelandet.” Gut für die Branche! 

Neben einer Liebe fürs Tunnelgraben hat der gebürtige Kärntner ein Faible für die Familie, gutes Essen, Laufen, Mountainbiken und Rennradfahren.  

Von Anna Riedler

Als der Orientierungssinn vergeben wurde, hatte sich Anna gerade verlaufen. Umso besser, dass ihre Arbeit mit Baustellen nur peripher zu tun hat – sie würde vermutlich nie wieder zurück ins Büro finden. Stattdessen schreibt die studierte Journalistin fleißig Texte für unsere Homepage, unseren Blog, und literaturnobelpreisverdächtige Kurzbeschreibungen.